Jetzt ist unsere Zeit: Aufarbeitung, Anerkennung und Aufbruch
Beschluss des SPD-Parteivorstands am 28. Januar 2019
Wir wollen die Erinnerung an 30 Jahre friedliche Revolution und Mauerfall mit einem neuen Aufbruch für Ostdeutschland verbinden. Gemeinsam haben die Menschen im Herbst 1989 Grenzen eingerissen und auf friedliche Weise ein freies Leben und demokratische Strukturen erkämpft. Die neue Freiheit ging bei viel zu vielen mit harten beruflichen und familiären Veränderungen einher. Gleichzeitig war diese Zeit ja auch getragen von einem Gefühl des Aufbruchs, von Stolz und dem Willen, unsere Gesellschaft besser machen zu wollen. Genau das haben die Menschen dann auch erfolgreich getan und wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben unseren guten Anteil daran. Heute übernehmen wir in allen ostdeutschen Bundesländern als Regierungsparteien Verantwortung und gestalten mit und leisten unseren Beitrag die soziale Einheit zu vollenden. Dennoch hat die SPD vielerorts Vertrauen verloren. Das wollen wir ändern, indem wir genau hinschauen und Lösungen anbieten.
Die Menschen in Ostdeutschland haben dank gesamtdeutscher Solidarität eine große Leistung vollbracht. Darauf können sie stolz sein. Die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen, ja es besteht mancherorts akuter Fachkräftebedarf. Junge Leute finden heute wieder Perspektiven in ihrer Heimat. Die ostdeutsche Wirtschaft steht auf einem deutlich stabileren Grund, als es noch vor wenigen Jahren zu erwarten war. Es haben sich international wettbewerbsfähige Unternehmen entwickelt. Gleichzeitig hatte der massive Umbruch wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Folgen, die bis heute wirken. Die meisten politischen, gesellschaftlichen und sozialen Zukunftsfragen stellen sich in ganz Deutschland, treten im Osten aber verstärkt auf oder sind anders gelagert. Diese wollen wir angehen mit konkreten Vorschlägen.
2019 verstehen wir als große Chance über deutsch-deutsche Geschichte miteinander ins Gespräch zu kommen, einander zuzuhören und sich gegenseitig Respekt zu zollen. Es ist an der Zeit mit Missverständnissen zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen aufzuräumen, und wir brauchen Gespräche über die vielen Brüche, die Familien in den 90er Jahren erlebt haben: Ehrlich und einander zugewandt.
Der SPD-Parteivorstand beschließt ein 12-Punkte-Programm:
- Unser Ziel ist, endlich gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West zu erreichen. Denn noch immer gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Regionen, wie zum Beispiel unterschiedliche Einkommen und Beschäftigungsmöglichkeiten oder auch eklatante Unterschiede bei der Sicherung von Mobilität und beim Zugang zu Angeboten der Daseinsvorsorge. Es muss nach dem Auslaufen des Solidarpaktes II einen neuen Pakt für strukturschwache Regionen in Ost und West geben. Ziel ist es die Wirtschaftskraft weiter zu stärken und gute Arbeit zu sichern.
- Wir schaffen die Voraussetzungen, um den Osten Deutschlands zur Innovationsschmiede zu machen. Nach der Phase der verlängerten Werkbänke muss der Osten zum herausgehobenen Produktions- und Entwicklungsstandort werden. Die nötigen Fördermittel für die Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft müssen gewährleistet werden. Dazu wollen wir die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ zu einem gesamtdeutschen Fördersystem weiterentwickeln, das die regionalen Strukturbedingungen des Ostens berücksichtigt. Und wir setzen uns für gut ausgestattete EU-Strukturfonds mit realistischen Kofinanzierungssätzen auch in der neuen Förderperiode ein. Die bestehende Forschungs- und Entwicklungslandschaft muss durch die Ansiedlung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen vervollständigt werden.
- Neu geschaffene Einrichtungen des Bundes sollen in Ostdeutschland angesiedelt werden, bis eine annähernd gleiche Verteilung von Arbeitsplätzen in Ost und West vorliegt. Über die Fortschritte auf diesem Gebiet soll der Ost-Beauftragte der Bundesregierung jährlich berichten.
- Schnelles Internet und Mobilfunk gehört für uns zur Daseinsvorsorge. Deshalb wollen wir eine hundertprozentige Versorgung mit Mobilfunk und schnellem Internet. Also an jeder Milchkanne. Deshalb darf die Bundesregierung die Frequenzen für 5G nur verkaufen, wenn die Mobilfunkanbieter eine flächendeckende Versorgung sicherstellen. Wir brauchen darüber hinaus eine starke öffentliche Kontrolle der Netze und Regulationsmechanismen bis hin zu einem Rechtsanspruch auf eine Mindestqualität der digitalen Infrastruktur. Der Staat muss die Vorgaben machen und nicht der Markt.
- 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es nicht akzeptabel, dass die meisten Ostdeutschen länger arbeiten als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen, aber im Schnitt 15 Prozent weniger bekommen. Wir brauchen die Angleichung der Löhne in Ost und West. Wir appellieren an die Sozialpartner die Tarifbindung im Osten zu steigern und gleiche Lohnabschlüsse in Ost und West durchzusetzen. Das gilt besonders für die Pflege, wo es endlich einen einheitlichen Pflegemindestlohn braucht und einen bundesweiten Tarifvertrag. Mit unserer Förderpolitik unterstützen wir die Ausweitung der Tarifbindung. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen wollen wir wo nötig erleichtern.
- Wir wollen die Anhebung des Mindestlohnes –perspektivisch auf 12 Euro. Wir wollen eine Mindestausbildungsvergütung, die ihren Namen verdient. Wir sprechen uns mit den Gewerkschaften für eine Orientierung an den durchschnittlichen tariflichen Ausbildungsvergütungen aus.
- Wir brauchen starke Kommunen in unseren Städten und Dörfern. Es ist wichtig, dass in unseren Städten und Gemeinden nicht Mangel verwaltet wird, sondern gestaltet werden kann. Tausende Ehrenamtliche Kommunalpolitiker leben Demokratie vor Ort. Kommunalpolitik ist das Fundament und nicht das Kellergeschoss der Demokratie. Daher wollen wir den finanziellen Spielraum der Kommunen stärken.
- Gerade die Aufbaugeneration macht sich zurecht Sorgen um ihre Rente. Deshalb müssen wir insbesondere die gebrochenen Erwerbsbiografien angemessen berücksichtigen. Wir fordern eine eigenständige Grundrente, die spürbar über der Grundsicherung liegt.
Die SPD setzt sich für einen Gerechtigkeitsfonds ein für jene Menschen, die durch die Rentenüberleitung der Nachwendezeit Nachteile erlitten haben. In einem ersten Schritt soll der im Koalitionsvertrag verabredete Härtefallfonds eingeführt werden.
- Langjährige Beitragszahler sollen nicht mehr so schnell in die Grundsicherung abrutschen. Deshalb soll die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (ALG 1) verlängert und dessen Bezugsvoraussetzungen erleichtert werden. Bei diesem Modell müssen wir dafür Sorge tragen, dass Geringverdiener mit ihrem ALG 1 nicht aufstocken müssen.
- Das neue „Starke-Familien-Gesetz“ ist ein Meilenstein nicht zuletzt für ostdeutsche Familien mit kleinen Einkommen, die oftmals schwer über die Runden kommen. Mit dem Gute-KiTa-Gesetz haben wir für mehr Qualität und weniger Gebühren in unseren Kitas gesorgt. Wir sind froh, dass so das uns vertraute ostdeutsche Modell frühkindlicher Bildung in ganz Deutschland gestärkt und ausgeweitet wird. Darauf aufbauend unterstützen wir die Idee, eine sozialdemokratische Kindergrundsicherung aus zwei Teilen zu gestalten: Einerseits aus Geld in der Familie. Anderseits aus einer kostenfreien Infrastruktur für alle Kinder.
- Wir wollen neben der Aufarbeitung der DDR-Zeit besonders auch die Nachwendezeit in den Fokus nehmen. Die Debatte wollen wir nach vorne gerichtet führen, weil es auch eine Debatte um die Anerkennung der Lebensleistung ist. Sie dient auch der Versachlichung und Versöhnung. Wir befürworten eine Arbeitsgruppe durch den Parteivorstand einzusetzen, die zeitnah konkrete Vorschläge ausarbeitet, wie ein Aufarbeitungsprozess über die Umbrüche in Ostdeutschland aussehen kann. Es geht um eine in die Zukunft gerichtete Diskussion im ganzen Land. Zum Jahrestag der Deutschen Einheit wollen wir mit einem Ost-West-Kulturzentrum in einer mittelgroßen Stadt in Ostdeutschland ein Zeichen setzen für einen gesamtgesellschaftlichen Dialog. Es soll als Forschungs-, Veranstaltungs- und Kulturzentrum ein offener Ort der ständigen Begegnung, der Erinnerung, des Nachdenkens und der Debatte zu allen Fragen der zukünftigen Entwicklung Ostdeutschlands innerhalb der Bundesrepublik und im Kontext Europas, vor allem auch Osteuropas, sein.
- In Ostdeutschland gibt es viele gute Initiativen, Vereine und Projekte die die Demokratie stärken. Diese wollen wir dauerhaft auf eine gesetzliche Grundlage stellen.